Narbengarten.

Manchmal erwische ich mich, wie ich vor dem Badspiegel im neuen Haus meines Vater stehe und mich, meinen Körper betrachte. Ich bin eine einzige Narbe. Meine dünnen Ärmchen voller roter und weißer Striemen. Meine Hüfte und meine Oberschenkel ebenfalls, doch diese Narben kommen von meiner Krankheit die mich Mitte April niedergeschmettert hat. Mir wurde Flüssigkeit zugeführt, literweise. Ich war aufgedunsen, meine Oberschenkel mindestens drei mal so breit wie zuvor. Nun habe ich die Quittung: Zerrissenes Gewebe an der Innenseite der Schenkel und an der Hüfte – zentimeterbreite Striemen. Ich sehe einfach nur noch kaputt aus… Unter den Achselhöhlen jeweils auch eine dicke, rote Narbe. Dort haben sie mir die Schläuche durch die Rippen in meine Lunge gestochen… ich fürchte, all die Narben werden niemals verschwinden. Zeit heilt leider nicht alle Wunden… tiefe Wunden verheilen niemals mehr völlig.

In der Klinik wurde ich ständig gefragt, was ich da an den Armen habe… gefühlte hundert Mal. Irgendwann gehen einem die Antworten aus, man wiederholt sich… man tut alles ab, als wäre nichts. Doch wenn einen der Gegenüber mit Tränen in den Augen anblickt, geht das wohl an niemandem so einfach vorbei…

Inzwischen wissen fast alle davon. Als ich so krank war, hatte ich keine Möglichkeit, mich zu verstecken. Die OP-Hemdchen sind nunmal ärmellos. Also haben alle meine Arme gesehen, meine ganze Familie und Bekannte, die mich besucht haben. Einige gehen seitdem auf Abstand, wissen nicht mehr, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen. Genau das habe ich gefürchtet, und nun ist es eingetreten. Leider habe ich nun keine Möglichkeit mehr, all das rückgängig zu machen… Gesehen ist gesehen, da geht jetzt kein Weg mehr zurück.

Etwas Positives hat es dennoch: Ich bin offener geworden und verstecke mich nicht mehr so wie früher. Das mag vielleicht auch an den Tabletten liegen, wer weiß… jedenfalls habe ich beschlossen, zumindest hier auch Dinge zu posten, die echt privat sind und die ich nicht jedem auf die Nase binden würde. Ich denke Offenheit ist die einzige Möglichkeit, mit seiner Vergangenheit, sich selbst und anderen zurechtzukommen.

Maya, mein Mädchen.

Ich habe vor einigen Wochen in einem Profil ein Zitat gelesen, das wie folgt lautete:

“Dazwischen. Mein Lebensraum ist das namenlose Dazwischen. Zu krank, um tadellos zu funktionieren. Zu gesund, um auffällig zu sein. Irgendwann muss man sich entscheiden, wo man hingehören will, muss man sein Leben in dieser luftleeren Zone beenden, eine Identität finden.”

Daraufhin war meine Neugier geweckt. Ich habe mir das Buch anschließend gleich bei amazon.de bestellt und bis heute morgen lag es verpackt in meinem Regal. Heute war mein erster Tag als tagesklinischer Patient auf meiner Station, auf der im Moment nicht viel los ist, da die meisten Angebote und Gruppen im Moment ausfallen, da viel Personal im Moment Urlaub hat. Deshalb ist gerade viel Zeit totzuschlagen zwischen einzelnen Terminen und ich habe mir (da ich im Moment kein anderes Buch angefangen habe) “Maya, mein Mädchen” mitgenommen und heute morgen mit dem Lesen angefangen. Ich war sofort ab der ersten Seite wie gefesselt, konnte kaum aufhören zu lesen. Ich finde mich in diesem Buch wieder, wie kaum in einem Buch zuvor… ich kann unglaublich gut mitfühlen, wie es der Hauptperson geht – wie sie denkt – wie sie fühlt. Ihr Name ist Maya, und sie hat die Diagnose Borderline bekommen, nachdem sie sich mit 24 Jahren versuchte, umzubringen.

Das Buch ist eines von der Sorte, in der man sich fast jede Textzeile herausschreiben könnte, so viele poetische und tiefsinnige Gedanken und Wortgespinste. Eine unglaubliche Wortgewalt und mal abgesehen davon auch noch ein Thema, das mich richtig interessiert.

Ich werde hier mal ein paar Zitate zusammenschreiben, damit man einen Eindruck gewinnen kann:

“Wie ein abgebrochener Schlüssel. Ich kann mich nicht mehr finden und nicht auf die Suche machen nach mir. Das sind die zerfetzten Teile ohne Zusammenhalt. Zum Zaungast geworden im Zirkus des eigenen Lebens. Das Programm ist bunt und gefährlich. Mein Film spult ab und bleibt immer an derselben Stelle stehen.”

“Entwurzelt treibe ich durch ein Leben und ringe um Wirklichkeit. Um meine Wirklichkeit, die mich immer wieder verlässt. Borderline. Sie haben es in der Klinik gesagt. Sie haben Borderline. Borderline, das heißt Grenzgänger. Du bist ein Grenzgänger. Niemals gehörst du dazu. Du bist nicht normal, aber auch nicht verrückt. Es ist dieses Vakuum dazwischen, dieser einsame Raum des Fremden. Kennst du das Gefühl, der einzige Mensch hier zu sein, allein, verlassen? Eine Mauer scheint dich von denen zu trennen, die dich niemals verstehen werden. Weißt du, wohin du gehörst? Du wirst es niemals wissen, weil du keine Identität hast.”

“Ich liebe Dich. Die Fesseln legen sich fest um mich, um meine Freiheit und meine Gedankenlosigkeit. Ich liebe Dich. Handschellen, die zuschnappen. Verstört ergreife ich die Flucht, versuche schnell zu gehen und bleibe hängen an diesen Worten. Mächtig, groß, gewaltig. Zu groß für mich. Die schönsten Worte, die ein Mensch dir sagen kann. Ich winde mich unter ihnen, versuche sie abzuschütteln, auf Abstand zu bringen. Ich liebe Dich. Das sind Worte, die mich ersticken, die mir um den Hals greifen, scheinbar sanft, als wollten sie mich streicheln, doch sie werden zudrücken, wenn ich sie nicht halten kann. Ich liebe Dich. Jetzt ist alles zu spät, jetzt gibt es kein Zurück mehr.  Du bedeutest mir etwas, verzweifelt suche ich nach meiner Unverbindlichkeit. Du darfst mich berühren, aber nicht mein Herz. Du darfst mich mögen, aber nicht lieben. “